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Die Verkündigung der Wiederkunft des Herrn (1870—1914)

Die Verkündigung der Wiederkunft des Herrn (1870—1914)

Kapitel 5

Die Verkündigung der Wiederkunft des Herrn (1870—1914)

„Die folgende Geschichte zeichne ich nicht bloß deshalb auf, weil ich gedrängt worden bin, einen Überblick über die Führungen Gottes auf dem Pfade des Lichts zu geben, sondern besonders, weil ich glaube, daß es notwendig ist, daß die Wahrheit mit Bescheidenheit gesagt werde, damit falsche Auffassungen und vorurteilsvolle irrige Behauptungen entkräftet werden und damit unsre Leser sehen können, wie der Herr bis hierher geholfen und geführt hat.“  a

IM Anschluß an diese Worte beschrieb Charles Taze Russell die Entwicklungen, die dazu führten, daß er das Werk Millennium-Tagesanbruch (später Schriftstudien genannt) und die Zeitschrift Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi (heute Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich) veröffentlichte. Diese Geschichte ist für Jehovas Zeugen von besonderem Interesse. Warum? Weil sich ihr gegenwärtiges Verständnis biblischer Wahrheiten und ihre Tätigkeiten bis in die 1870er Jahre zurückverfolgen lassen, zum Werk C. T. Russells und seiner Gefährten — und von da aus bis zur Bibel und zum Urchristentum.

Wer war Charles Taze Russell? Zeugt die Geschichte seines Werkes von der Hilfe und Führung des Herrn?

Suche nach der Wahrheit

C. T. Russell wurde am 16. Februar 1852 in den Vereinigten Staaten geboren, in Allegheny (Pennsylvanien), das heute zu Pittsburgh gehört. Er war der zweite Sohn von Joseph L. und Ann Eliza Russell geb. Birney, die Presbyterianer schottisch-irischer Abstammung waren. Seine Mutter starb, als er erst neun Jahre alt war, aber schon von früher Kindheit an war er von seinen frommen Eltern religiös erzogen worden. Ein späterer Gefährte C. T. Russells drückte es so aus: „Sie pflegten den kleinen Zweig, und er wuchs in der Richtung des Herrn.“ Trotz seiner presbyterianischen Erziehung schloß sich Charles später der Kongregationalistenkirche an, da ihm ihre Ansichten eher zusagten.

Der junge Charles war offenbar ein guter Geschäftsmann. Schon mit 11 Jahren war er Teilhaber in dem florierenden Herrenbekleidungsgeschäft seines Vaters geworden. Charles vergrößerte das Geschäft und leitete schließlich selbst eine Reihe von Läden. Beruflich ging es ihm zwar gut, doch was seinen Glauben betraf, war er sehr beunruhigt. Wie kam das?

Charles’ Eltern glaubten aufrichtig an das, was die Kirchen der Christenheit lehrten, und erzogen ihren Sohn in diesem Glauben. Dem jungen Charles wurde also einerseits beigebracht, daß Gott Liebe ist, andererseits aber, daß Gott dem Menschen bei der Erschaffung Unsterblichkeit verliehen und ein Inferno geschaffen hätte, wo er alle ewig quälen würde — außer denen, die zum Heil prädestiniert wären. Diese Vorstellung war dem aufrichtigen Herzen des jugendlichen Charles zuwider. Er argumentierte: „Ein Gott, der seine Macht dazu gebrauchen würde, menschliche Wesen zu erschaffen, von denen er wußte, ja die er im voraus dazu bestimmte, daß sie ewig gequält werden sollten, konnte weder weise noch gerecht oder liebevoll sein. Seine Handlungsweise stände so tiefer als die vieler Menschen.“

Doch der junge Russell war kein Atheist; er konnte einfach die landläufigen Lehren der Kirchen nicht hinnehmen. Er erklärte: „Schritt für Schritt erkannte ich, daß, obwohl jedes der verschiedenen Glaubensbekenntnisse gewisse Bestandteile der Wahrheit enthielt, sie doch als Ganzes irreführend und mit dem Worte Gottes im Widerspruch waren.“ Ja, in den Glaubensbekenntnissen der Kirchen waren „Bestandteile der Wahrheit“ in einem Morast heidnischer Lehren verborgen, die während des jahrhundertelangen Abfalls in die befleckte Christenheit eingedrungen waren. Russell wandte sich von den kirchlichen Glaubensbekenntnissen ab und befaßte sich auf seiner Suche nach der Wahrheit mit den bedeutenden Religionen des Ostens, die ihn allerdings nicht befriedigten.

Wieder im Glauben gefestigt

Der Zweig war jedoch von gottesfürchtigen Eltern gepflegt worden; er neigte sich in die „Richtung des Herrn“. Während Charles weiter nach der Wahrheit suchte, geschah eines Abends im Jahre 1869 etwas, wodurch sein erschütterter Glaube wieder gefestigt wurde. Als er in der Nähe eines der eigenen Geschäfte die Federal Street entlangging, hörte er Kirchengesang, der von einem Saal in einem Kellergeschoß nach draußen drang. Lassen wir ihn selbst berichten, was er erlebte:

„Anscheinend durch einen Zufall geriet ich eines Abends in ein staubiges, schmutziges Versammlungslokal, wo, wie ich gehört hatte, religiöse Zusammenkünfte abgehalten wurden, um zu sehen, ob die paar Leute, die sich dort versammelten, etwas Vernünftigeres zu bieten hätten als die Glaubensbekenntnisse der großen Kirchengemeinschaften. Dort hörte ich zum ersten Male etwas über die Ansichten der Adventisten, und zwar von dem Prediger Jonas Wendell ... Ich bekenne daher, daß ich sowohl den Adventisten als auch anderen Denominationen Dank schulde. Obgleich seine Auslegungen der Schrift nicht ganz klar waren, ... so genügten sie doch unter Gottes Führung, meinen erschütterten Glauben an die göttliche Eingebung der Bibel wieder zu festigen und mir zu erkennen zu geben, daß die Aussagen der Apostel und der Propheten unzertrennlich miteinander verbunden sind. Das, was ich hörte, wurde mir eine Veranlassung, meine Bibel mit mehr Eifer und Sorgfalt denn je zu studieren, und stets werde ich dem Herrn für jene Führung danken, denn obgleich mir der Adventismus keine bestimmte Wahrheit erschloß, so war er mir doch behilflich, Irrtümer zu verlernen und mich so für die Wahrheit vorzubereiten.“

Diese Zusammenkunft bestärkte den jungen Russell in seinem Entschluß, nach der biblischen Wahrheit zu suchen. Sie veranlaßte ihn, sich mit größerem Eifer als je zuvor der Bibel zuzuwenden. Russell erkannte bald, daß für die Diener des Herrn die Zeit nahe war, zu einer klaren Erkenntnis des göttlichen Vorsatzes zu gelangen. So traf er sich 1870 voller Enthusiasmus mit einigen Bekannten aus Pittsburgh und dem benachbarten Allegheny und gründete einen Kreis zur Erforschung der Bibel. Nach den Worten eines späteren Gefährten Russells ging der kleine Bibelkreis wie folgt vor: „Jemand stellte eine Frage. Man besprach sie. Alle damit in Beziehung stehenden Bibelstellen wurden nachgeschlagen, und wenn man dann von der Übereinstimmung dieser Texte überzeugt war, legte man dar, zu welchem Schluß man gekommen war, und machte Aufzeichnungen davon.“ Wie Russell später sagte, waren die Jahre von 1870 bis 1875 „eine Zeit beständigen Wachsens in der Gnade und Erkenntnis und Liebe Gottes und seines Wortes“.

Bei ihrer Erforschung der Heiligen Schrift wurden diesen aufrichtigen Wahrheitssuchern eine Reihe von Punkten klarer. Sie lernten die biblische Wahrheit über die Sterblichkeit der menschlichen Seele kennen, und ihnen wurde bewußt, daß Unsterblichkeit eine Gabe war, die die Miterben mit Christus in seinem himmlischen Königreich erlangen sollten (Hes. 18:20; Röm. 2:6, 7). Sie begriffen allmählich die Lehre vom Loskaufsopfer Jesu Christi und erkannten die Gelegenheit, die sich dadurch der Menschheit eröffnete (Mat. 20:28). Ihnen wurde klar, daß Jesus zwar als Mensch im Fleisch auf die Erde kam, daß er aber bei seiner Wiederkunft als Geistperson unsichtbar gegenwärtig wäre (Joh. 14:19). Ferner lernten sie, daß Jesus bei seiner Wiederkunft nicht die Absicht hatte, alle zu vernichten, sondern die gehorsamen Familien der Erde zu segnen (Gal. 3:8). Russell schrieb: „Wir fühlten eine große Betrübnis über den Irrtum der Adventisten, die Christum im Fleische erwarteten und lehrten, daß die Welt und alles, was darin ist, die Adventisten ausgenommen, ... verbrannt werden würde.“

Die biblischen Wahrheiten, die dieser kleine Bibelkreis erkannte, führten ganz offensichtlich zu einer Abkehr von den heidnischen Lehren, die während des jahrhundertelangen Abfalls in das Christentum eingedrungen waren. Gelangten Russell und seine geistiggesinnten Gefährten aber ohne fremde Hilfe zu diesen Wahrheiten aus der Bibel?

Einfluß anderer

Russell sprach offen über die Hilfe, die er von anderen bei seinem Studium der Bibel erhalten hatte. Er gab nicht nur zu, daß er dem Adventisten Jonas Wendell Dank schuldete, sondern äußerte sich auch liebevoll über zwei weitere Personen, die ihm bei seinem Bibelstudium behilflich gewesen waren. Russell sagte von diesen beiden Männern: „Das Studium des Wortes Gottes mit diesen lieben Brüdern führte Schritt für Schritt auf grünere Weiden.“ Der eine, George W. Stetson, war ein gewissenhafter Erforscher der Bibel und Pfarrer der Adventistisch-Christlichen Kirche in Edinboro (Pennsylvanien).

Der andere, George Storrs, gab in Brooklyn (New York) die Zeitschrift Bible Examiner (Prüfer der Bibel) heraus. Storrs, der am 13. Dezember 1796 geboren wurde, erhielt den Anstoß, zu prüfen, was die Bibel über den Zustand der Toten sagt, nachdem er etwas gelesen hatte, was Henry Grew aus Philadelphia (Pennsylvanien), ein sorgfältiger Erforscher der Bibel, veröffentlicht hatte (damals allerdings anonym). Storrs wurde ein eifriger Verfechter der sogenannten bedingten Unsterblichkeit — der Lehre, daß die Seele sterblich ist und daß Unsterblichkeit eine Gabe ist, die treue Christen erlangen. Er folgerte auch, daß es keine ewige Qual geben kann, wenn die Bösen nicht unsterblich sind. Storrs machte ausgedehnte Reisen, auf denen er Vorträge darüber hielt, daß die Bösen keine Unsterblichkeit haben. Zu den Werken, die er veröffentlichte, gehörten die Six Sermons (Sechs Predigten), die eine Auflage von 200 000 erreichten. Zweifellos hatten Storrs’ feste biblisch gestützte Ansichten über die Sterblichkeit der Seele sowie über Sühne und Wiederherstellung (dessen, was durch die adamische Sünde verlorenging; Apg. 3:21) einen starken, positiven Einfluß auf den jungen Charles T. Russell.

Doch ein anderer Mann, der Russells Leben stark beeinflußte, gab den Anlaß, daß seine Treue zur biblischen Wahrheit auf die Probe gestellt wurde.

Zeitprophezeiungen und die Gegenwart des Herrn

Im Januar 1876 erhielt der 23jährige Russell eines Morgens eine Ausgabe des Herald of the Morning (Herold des Morgens), einer religiösen Zeitschrift. Am Titelbild erkannte er, daß sie von adventistischer Seite kam. Der Herausgeber, Nelson H. Barbour aus Rochester (New York), glaubte, daß der Zweck der Wiederkunft Christi nicht darin bestehe, die Familien der Erde zu vernichten, sondern sie zu segnen, und daß Christus nicht im Fleisch, sondern als Geistwesen wiederkommen werde. Genau das glaubten Russell und seine Gefährten in Allegheny seit einiger Zeit! b Merkwürdigerweise war Barbour jedoch aufgrund biblischer Zeitprophezeiungen davon überzeugt, daß Christus bereits (unsichtbar) gegenwärtig sei und daß die Zeit für das Erntewerk des Einsammelns des „Weizens“ (wahre Christen, die die Klasse der Königreichserben bilden) bereits gekommen sei (Mat., Kap. 13).

Russell schreckte vor biblischen Zeitprophezeiungen zurück. Nun fragte er sich jedoch: „Konnte es sein, daß die Zeitprophezeiungen, die ich wegen ihres Mißbrauchs durch die Adventisten so lange verachtet hatte, in Wirklichkeit anzeigen sollten, wann der Herr unsichtbar gegenwärtig sein würde, um sein Reich aufzurichten?“ Russell mußte mehr darüber erfahren, da er einen unstillbaren Durst nach biblischer Wahrheit hatte. Deshalb vereinbarte er eine Begegnung mit Barbour in Philadelphia. Bei diesem Treffen hatten sie die Gelegenheit, Ansichten auszutauschen, und es bestätigte sich, daß sie über eine Reihe biblischer Lehren übereinstimmend dachten. „Als wir das erste Mal zusammentrafen“, berichtete Russell später, „hatte er viel von mir zu lernen über die Fülle der Wiederherstellung, wie sie ihre Grundlage in der Vollgültigkeit des für alle gegebenen Lösegeldes hat, während ich viel von ihm in bezug auf die Zeit zu lernen hatte.“ Barbour konnte Russell davon überzeugen, daß Christi unsichtbare Gegenwart 1874 begonnen habe. c

„Zu einem rührigen Feldzug für die Wahrheit“ entschlossen

C. T. Russell war ein Mann mit einer festen Überzeugung. Da er überzeugt war, daß Christi unsichtbare Gegenwart bereits begonnen hatte, war er entschlossen, sie anderen zu verkündigen. Er sagte später: „Die Erkenntnis der Tatsache, daß wir uns schon in der Erntezeit befanden, diente mir zu einem mächtigen Antriebe, die Wahrheit auszubreiten, wie ich ihn zuvor nie gekannt hatte. Ich entschloß mich daher sofort zu einem rührigen Feldzug für die Wahrheit.“ Russell entschied sich nun, seine geschäftliche Tätigkeit einzuschränken, damit er sich dem Predigen widmen konnte.

Um falschen Ansichten über die Wiederkunft des Herrn entgegenzuwirken, schrieb Russell die Flugschrift The Object and Manner of Our Lord’s Return (Der Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft unseres Herrn). Sie erschien 1877. Im selben Jahr gaben Barbour und Russell gemeinsam Three Worlds, and the Harvest of This World (Drei Welten und die Ernte dieser Welt) heraus. In diesem 196seitigen Buch wurden die Themen Wiederherstellung und biblische Zeitprophezeiungen besprochen. Beide Themen waren zwar schon zuvor von anderen einzeln abgehandelt worden, doch nach Russells Meinung war dieses Buch „das erste, das den Gedanken der Wiederherstellung mit der Zeitprophetie verband“. Darin wurde die Auffassung dargelegt, daß Jesu Christi unsichtbare Gegenwart im Herbst 1874 begonnen habe.

Während Russell reiste und predigte, wurde ihm klar, daß mehr erforderlich war, um die Samen der Wahrheit, die er säte, zum Keimen zu bringen und zu bewässern. Er dachte an eine „Monatsschrift“. Er und Barbour beschlossen daher, den Herald, dessen Erscheinen wegen gekündigter Abonnements und erschöpfter Geldmittel eingestellt worden war, erneut herauszugeben. Russell steuerte eigene Mittel bei, um die Zeitschrift wiederzubeleben, und wurde Mitherausgeber.

Eine Zeitlang — bis 1878 — ging alles gut.

Russell bricht mit Barbour

In der Ausgabe des Herald of the Morning vom August 1878 erschien ein Artikel von Barbour, in dem er den Loskaufswert des Todes Christi leugnete. Russell, der fast 30 Jahre jünger war als Barbour, erkannte, daß damit der Kern der Lehre vom Lösegeld verworfen wurde. Deshalb verteidigte Russell die Lösegeldlehre gleich in der nächsten Ausgabe (September 1878) in dem Artikel „Das Sühnopfer“ und widersprach den Darlegungen Barbours. Während der nächsten Monate wurde die Kontroverse in der Zeitschrift fortgesetzt. Schließlich beschloß Russell, sich von Barbour zurückzuziehen und den Herald nicht mehr finanziell zu unterstützen.

C. T. Russell war allerdings der Meinung, daß es nicht reichte, sich vom Herald zu distanzieren; die Lehre vom Lösegeld mußte verteidigt und Christi Gegenwart verkündigt werden. Daher gab Russell im Juli 1879 Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence d (Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi) heraus. Russell war Redakteur und Herausgeber, und anfangs wurden fünf Personen aufgeführt, die regelmäßig Beiträge lieferten. Von der ersten Ausgabe wurden 6 000 Exemplare gedruckt. Bis zum Jahre 1914 war die Zahl auf 50 000 je Ausgabe gestiegen.

„Nicht als etwas Neues, nicht als unser Eigentum, sondern als das des Herrn“

C. T. Russell hielt durch den Wacht-Turm und andere Veröffentlichungen biblische Wahrheiten hoch und widerlegte falsche religiöse Lehren und menschliche Philosophien, die im Widerspruch zur Bibel waren. Er behauptete jedoch nicht, neue Wahrheiten entdeckt zu haben.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten viele Geistliche und Bibelgelehrte die falschen Lehren bloßgestellt, nach denen die Seele unsterblich sei und die Bösen ewig bestraft würden. Diese Enthüllungen waren in dem Buch Bible Vs. Tradition (Bibel kontra Tradition) von Aaron Ellis eingehend dargelegt worden, das zuerst in England erschien. 1853 wurde es dann in den Vereinigten Staaten von George Storrs herausgegeben. Aber keiner war damals mehr darum bemüht, diese Wahrheiten bekanntzumachen, als C. T. Russell und seine Gefährten.

Wie steht es mit anderen biblischen Lehren, die im Wacht-Turm und in anderen Publikationen erörtert wurden? Rechnete es sich Russell allein als Verdienst an, diese Juwelen der Wahrheit freigelegt zu haben? Er erklärte: „Wir stellten fest, daß jahrhundertelang verschiedene Religionsgemeinschaften und Gruppen die biblischen Lehren innerhalb ihrer Reihen auseinandergerupft und sie mehr oder weniger mit menschlichen Spekulationen und Irrtümern verschmolzen hatten ... Wir stellten fest, daß die wichtige Lehre der Rechtfertigung durch Glauben (nicht durch Werke) von Luther und in jüngerer Zeit von vielen Christen klar formuliert worden war; daß die Presbyterianer die göttliche Gerechtigkeit, Macht und Weisheit hochschätzten, obwohl sie sie nicht deutlich erkannten; daß die Methodisten die Liebe und Barmherzigkeit Gottes schätzten und priesen; daß die Adventisten die kostbare Lehre von der Wiederkunft des Herrn vertraten; daß die Baptisten unter anderem die Lehre von der Taufe in ihrer Symbolik richtig verstanden, wenngleich sie die wahre Taufe aus den Augen verloren hatten; und daß eine Reihe Universalisten lange Zeit eine vage Vorstellung von der ‚Wiederherstellung‘ hatten. Und so ließen fast alle Denominationen erkennen, daß ihre Gründer nach der Wahrheit getastet hatten. Offenbar hatte aber der große Widersacher gegen sie gekämpft und das Wort Gottes, das er nicht ganz vernichten konnte, falsch ausgeteilt.“

Über die Chronologie, die er oft vorlegte, sagte Russell: „Wenn wir von ‚unserer‘ Chronologie sprechen, meinen wir lediglich diejenige, die wir gebrauchen — die biblische Chronologie, die für jeden aus Gottes Volk da ist, der sie anerkennt. Tatsächlich wurde sie praktisch in der Form, in der wir sie vorlegen, lange vor unserer Zeit gebraucht, so wie auch die verschiedenen Prophezeiungen, die wir verwenden, von den Adventisten zu einem anderen Zweck gebraucht wurden und wie auch die verschiedenen Lehren, die wir vertreten und die so neu und frisch und anders wirken, schon vor langem in irgendeiner Form vertreten wurden, zum Beispiel: Auserwählung, freie Gnade, Wiederherstellung, Rechtfertigung, Heiligung, Verherrlichung und Auferstehung.“

Wie sah Russell die Rolle, die er und seine Gefährten in der Verkündigung der biblischen Wahrheit spielten? Er erläuterte: „Unser Werk ... besteht darin, diese seit langem verstreuten Bruchstücke der Wahrheit zusammenzusetzen und sie dem Volk des Herrn zu vermitteln — nicht als etwas Neues, nicht als unser Eigentum, sondern als das des Herrn. ... Wir dürfen es uns nicht einmal als Verdienst anrechnen, die Juwelen der Wahrheit gefunden und neu geordnet zu haben.“ Außerdem sagte er: „Das Werk, für das der Herr unser bescheidenes Talent zu gebrauchen beliebt hat, ist weniger ein Werk des Hervorbringens als vielmehr ein Werk der Rekonstruktion, der Berichtigung und der Angleichung.“

Russell bildete sich also auf seine Errungenschaften nichts ein. Dessenungeachtet waren die „verstreuten Bruchstücke der Wahrheit“, die er zusammensetzte und dem Volk des Herrn vermittelte, frei von den gottentehrenden heidnischen Lehren der Dreieinigkeit und der Unsterblichkeit der Seele, die sich als Folge des großen Abfalls fest in den Kirchen der Christenheit eingewurzelt hatten. Wie sonst niemand verkündigten Russell und seine Gefährten seinerzeit weltweit, was die Wiederkunft des Herrn bedeutete und worin der Vorsatz Gottes bestand.

„Uns gegenseitig im allerheiligsten Glauben stärken“

Aufrichtige Menschen waren schon sehr bald empfänglich für die befreienden Wahrheiten, die C. T. Russell und seine Gefährten in gedruckter Form und durch Vorträge verkündigten. Russell, der noch keine 30 Jahre alt war, erkannte bald, daß es für die Leser des Wacht-Turms wichtig wäre, Mitgläubige kennenzulernen, damit sie sich gegenseitig ermuntern konnten. Die Bibelforscher in Pittsburgh kamen zu diesem Zweck regelmäßig zusammen. Was könnte aber für die Leser des Wacht-Turms anderswo getan werden?

Die Antwort kam in den Ausgaben des Wacht-Turms von Mai und Juni 1880 (engl.). Russell kündigte an, daß er vorhatte, verschiedene Orte in den Bundesstaaten Pennsylvanien, New Jersey, Massachusetts und New York zu besuchen. Weshalb? „Unsere Leser wohnen sehr verstreut“, hieß es in der Ankündigung, „an manchen Orten sind es 2 oder 3, an anderen bis zu 50. Vielerorts kennen sie sich überhaupt nicht und müssen daher auf den liebevollen Trost verzichten, den ihnen unser Vater dadurch zukommen lassen will, daß ‘sie sich versammeln, wie einige zu tun pflegen’. Es ist sein Wunsch, daß ‘einer den andern erbaue’ und daß wir uns gegenseitig im allerheiligsten Glauben stärken. Die geplanten Zusammenkünfte werden, so hoffen wir, dem persönlichen Kennenlernen dienlich sein“ (Heb. 10:24, 25).

Die „geplanten Zusammenkünfte“ fanden während der Reise Russells statt und hatten die erhofften Ergebnisse; die Leser des Wacht-Turms kamen sich näher. Diese und andere Reisen zu „kleinen Gruppen Wartender“ führten bald zur Gründung einer Reihe von „Klassen“ oder „Ekklesias“ (später Versammlungen genannt), die sich in den bereits erwähnten Gebieten sowie in Ohio und Michigan befanden. Die Klassen wurden ermuntert, regelmäßig Zusammenkünfte abzuhalten. Aber wie liefen diese Zusammenkünfte ab?

Die Klasse in Pittsburgh hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens zweimal wöchentlich zusammenzukommen. Bei einer der Zusammenkünfte hielt oft ein befähigter Redner vor der ganzen Ekklesia einen Vortrag, eventuell in einem gemieteten Saal. Doch bei den anderen Zusammenkünften, die meist in Privathäusern stattfanden, waren die Besucher eingeladen, eine Bibel, eine Konkordanz, Papier und Stifte mitzubringen und sich zu beteiligen.

Die herzliche geistige Gemeinschaft bei diesen wöchentlichen Zusammenkünften war ein erfrischender Gegensatz zu der kalten, unpersönlichen Atmosphäre bei den Gottesdiensten vieler Kirchen der Christenheit. Russell und seine Gefährten kamen aber nicht als erste auf den Gedanken, sich regelmäßig zu versammeln. Der Brauch zusammenzukommen — auch in Privathäusern — wurde von den Christen des ersten Jahrhunderts eingeführt (Röm. 16:3, 5; Kol. 4:15).

„Predigst du?“

C. T. Russell und seine Gefährten waren fest davon überzeugt, daß sie in einer Zeit der Ernte lebten und daß die Menschen die befreiende Wahrheit hören mußten. Allerdings waren sie nur wenige. Der Wacht-Turm kam einem wichtigen Bedürfnis entgegen — konnte aber mehr getan werden? Russell und seine Gefährten waren dieser Meinung. In den 1880er Jahren veröffentlichten sie die Schriftforscher-Traktate (später auch Die alte Theologie genannt), die den Lesern des Wacht-Turms zur kostenlosen Verbreitung gegeben wurden.

Ja, die Leser des Wacht-Turms wurden aufgefordert, die kostbaren Wahrheiten, die sie kennenlernten, an andere weiterzugeben. „Predigst du?“ wurde in der Ausgabe des Wacht-Turms von Juli/August 1881 (engl.) gefragt. Als wie wichtig galt das Predigen? In dem Artikel hieß es weiter: „Wir glauben, daß keiner zur kleinen Herde gehört, er sei denn ein Prediger. ... Ja, wir wurden berufen, mit ihm zu leiden und jetzt diese gute Botschaft zu verkündigen, damit wir zur bestimmten Zeit verherrlicht werden und die Dinge vollbringen können, die jetzt gepredigt werden. Wir wurden weder dazu berufen noch gesalbt, Ehre zu empfangen und Reichtum anzuhäufen, sondern um auszugeben und uns zu verausgaben und die gute Botschaft zu predigen.“

Es war durchaus angebracht, daß diese ersten Bibelforscher es als dringend notwendig ansahen, die gute Botschaft zu predigen. Die Christen des ersten Jahrhunderts hatten einen Predigtauftrag erhalten; und alle wahren Christen haben bis auf den heutigen Tag die Pflicht zu predigen (Mat. 24:14; 28:19, 20; Apg. 1:8). Doch welches Ziel verfolgten Russell und die damaligen Leser des Wacht-Turms beim Predigen? Bestand es lediglich darin, biblische Literatur zu verbreiten oder Kirchgängern die Wahrheiten der Heiligen Schrift zum Bewußtsein zu bringen?

„Du [mußt] sie verlassen“

Seit langer Zeit mahnt die Bibel: „Geht aus ihr hinaus, mein Volk.“ Was sollten Gottes Diener verlassen? „Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde“ (Offb. 17:5; 18:4). Und warum sollten sie aus Babylon hinausgehen? „Ihre Sünden haben sich aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Taten der Ungerechtigkeit gedacht“ (Offb. 18:5). Wer ist die Mutter der Huren, von der man sich trennen soll?

Martin Luther und andere Reformatoren bezeichneten die katholische Kirche und das Papsttum als Babylon die Große. Wie steht es mit den protestantischen Kirchen, die der Reformation entsprangen? Tatsache ist, daß sich einige, abgesehen von ihrer Ablehnung des Primats, in der Kirchenstruktur nicht wesentlich vom Katholizismus unterschieden, und sie behielten unbiblische Lehren bei, wie zum Beispiel die Lehre von der Dreieinigkeit, von der Unsterblichkeit der Seele und von der ewigen Qual. Aus diesem Grund forderten einige Prediger die Leute auf, sich nicht nur von der katholischen Kirche loszusagen, sondern auch von den großen protestantischen Kirchen.

Auch C. T. Russell und seine Gefährten erkannten, daß diese berüchtigte Hure nicht lediglich die katholische Kirche war. Zwar wurde im Wacht-Turm vom November 1879 (engl.) Babylon die Große mit dem „Papsttum als SYSTEM“ gleichgesetzt, doch in dem betreffenden Artikel wurde ausgeführt: „Wir müssen noch weitergehen und andere Kirchen einbeziehen, die mit den politischen Reichen der Erde vereint sind (nicht einzelne Mitglieder, sondern die Kirchensysteme). Jede Kirche, die behauptet, eine dem Christus versprochene keusche Jungfrau zu sein, aber in Wirklichkeit mit der Welt (dem wilden Tier) vereint ist und von ihr unterstützt wird, müssen wir in der Sprache der Bibel als Hurenkirche verurteilen.“

Wozu wurden die Leser des Wacht-Turms also ermuntert? Russell schrieb: „Wenn die Kirche, mit der du verbunden bist, in ehebrecherischer Gemeinschaft mit der Welt lebt, mußt du sie verlassen, damit du ein weißes Gewand haben kannst.“ Russell und seinen Gefährten war damals nicht die volle Tragweite des Einflusses Babylons der Großen bewußt. Dennoch wurden die Leser des Wacht-Turms aufgefordert, sich von Kirchen zu trennen, die korrupt und weltlich waren (Joh. 18:36).

„Die darin enthaltene Wahrheit nahm mein Herz sogleich gefangen“

In der Veröffentlichung biblischer Wahrheiten wurde ein entscheidender Schritt nach vorn getan, als 1886 der erste Band einer bereits angekündigten Bücherserie von C. T. Russell, betitelt Millennium-Tagesanbruch, erschien. Band 1 hieß Der göttliche Plan der Zeitalter. Er enthielt Studien über 16 Themen wie zum Beispiel „Das Dasein eines allerhöchsten intelligenten Schöpfers nachgewiesen“, „Die Bibel als göttliche Offenbarung im Lichte der Vernunft und Erkenntnis betrachtet“, „Die Wiederkunft unseres Herrn. Ihr Zweck, die Wiederherstellung aller Dinge“ und „Die Zulassung des Bösen und seine Beziehung zum Plane Gottes“. Danach schrieb C. T. Russell noch fünf weitere Bücher der Serie Millennium-Tagesanbruch. e

Russell starb, bevor er seinen geplanten siebten Band der Serie schreiben konnte, aber die sechs vollendeten Bände, die weite Verbreitung fanden, stießen bei aufrichtigen Menschen auf Resonanz. „Ihr Buch MILLENNIUM-TAGESANBRUCH erhielt ich vergangenen Herbst“, schrieb eine Leserin im Jahre 1889. „Vorher wußte ich nicht einmal, daß es ein solches Werk gibt. Ich bekam es an einem Samstagabend, begann unverzüglich zu lesen und legte es nicht mehr aus der Hand — außer wenn mir nichts andres übrigblieb —, bis ich es ausgelesen hatte. Die darin enthaltene Wahrheit nahm mein Herz sogleich gefangen; folglich zog ich mich von der presbyterianischen Kirche zurück, wo ich so lange im dunkeln nach der Wahrheit gesucht und sie nicht gefunden hatte.“

In jenen Tagen erforderte es großen Mut, sich von seiner Kirche abzukehren. Das zeigt das Beispiel einer Frau in Manitoba (Kanada), die 1897 in den Besitz der Serie Millennium-Tagesanbruch gelangte. Zunächst wollte sie ihrer Kirche treu bleiben und in der Sonntagsschule unterrichten. Doch im Jahre 1903 kam der Tag, an dem sie mit ihrer Kirche brach. Sie stand vor der ganzen Gemeinde auf und erklärte, warum sie es für unumgänglich hielt, sich von der Kirche zu trennen. Ihre Nachbarin wollte sie bewegen, zur Kirche zurückzukehren. (Damals waren den Dorfbewohnern die Nachbarn lieb und teuer.) Aber sie blieb fest, obwohl es in der Nähe keine Gruppe von Bibelforschern gab. Ihr Sohn beschrieb die Situation später wie folgt: „Kein Bibelstudiendiener [Ältester], der ihr Halt geben konnte. Keine Zusammenkünfte. Ein zerknirschtes Herz. Eine zerlesene Bibel. Stundenlanges Verharren im Gebet.“

Woran lag es, daß die Millennium-Tagesanbruch-Bände, der Wacht-Turm und andere Veröffentlichungen der Gesellschaft das Herz der Leute gefangennahmen und sie zu solch entschlossenem Handeln bewogen? C. T. Russells Methode, biblische Lehren zu erklären, war anders als die vieler Autoren seiner Tage. Er glaubte an die Bibel als das unfehlbare Wort Gottes und an die Harmonie ihrer Lehren. Wenn daher eine Passage der Bibel schwer zu verstehen sei, so dachte er, müsse sie durch eine andere Passage der inspirierten Heiligen Schrift erhellt und gedeutet werden. Er versuchte nicht, seine Erklärungen durch das Zeugnis der Theologen seiner Zeit oder durch die Auffassungen der sogenannten Kirchenväter zu erhärten. Im ersten Band der Serie Millennium-Tagesanbruch schrieb er: „Wir halten es aber für einen allgemeinen Fehler dieser und jeder Zeit, daß man gewisse Lehren glaubt, weil andere es taten, denen man Vertrauen schenkte. ... Wahrheitssucher sollten ihre Gefäße von den schmutzigen Wassern menschlicher Überlieferungen entleeren und sie an der Quelle der Wahrheit, dem Worte Gottes, füllen.“

Da immer mehr Wahrheitssucher für das empfänglich waren, was sie in den Veröffentlichungen der Watch Tower Society lasen, wurden in Allegheny Veränderungen nötig, mit denen man nicht gerechnet hatte.

Hauptbüro im Bibelhaus

Den Bibelforschern in Allegheny, die mit dem Erscheinen des Wacht-Turms zu tun hatten, gestand man zu, daß sie am meisten Erfahrung im Werk des Herrn hatten, und sie wurden von allen Ekklesias oder Versammlungen als diejenigen betrachtet, die die Führung innehatten. Zunächst hatten sie ihr Hauptbüro in der Fifth Avenue 101 in Pittsburgh und später in der Federal Street 44 in Allegheny. Ende der 1880er Jahre wurde jedoch eine Erweiterung notwendig. Daher leitete Russell die Errichtung größerer Gebäude in die Wege. 1889 wurde ein viergeschossiges Backsteingebäude in Allegheny in der Arch Street 56-60 fertiggestellt, dessen Wert man mit 34 000 Dollar angab. Es wurde Bibelhaus genannt. Etwa 19 Jahre war es das Hauptbüro der Gesellschaft.

Im Jahre 1890 diente die kleine Bibelhausfamilie den Bedürfnissen von mehreren hundert Personen, die aktiv mit der Watch Tower Society verbunden waren. Doch im weiteren Verlauf der 1890er Jahre zeigten immer mehr Leute Interesse. Nach einem unvollständigen Bericht über den 26. März 1899, der im Wacht-Turm (engl.) erschien, wurde die Feier zum Gedenken an den Tod Christi in 339 verschiedenen Zusammenkünften begangen, und 2 501 Personen nahmen daran teil. Wie konnte aber die wachsende Zahl von Bibelforschern zusammengehalten werden?

Die wachsende Herde vereinigen

C. T. Russell ermunterte alle Leser des Wacht-Turms, soweit es ihnen möglich wäre, in kleinen oder großen Gruppen zusammenzukommen, um sich gegenseitig im Glauben zu erbauen. Durch den Wacht-Turm wurde biblischer Rat vermittelt. Das Hauptbüro sandte auch reisende Beauftragte der Watch Tower Society aus, die mit den verschiedenen Gruppen in Berührung bleiben und sie im Glauben stärken sollten.

In Abständen fanden außerdem Hauptversammlungen statt, die von Bibelforschern aus nah und fern besucht wurden. „Hiermit sprechen wir eine BESONDERE EINLADUNG an alle Leser aus, die es einrichten können zu kommen“, hieß es im Wacht-Turm vom März 1886 (engl.). Was war der Anlaß? Die jährliche Feier des Abendmahls des Herrn, die am Sonntag, den 18. April 1886 in Allegheny begangen werden sollte. Es war jedoch noch mehr geplant: Für die Abende der darauffolgenden Woche war eine Reihe besonderer Zusammenkünfte angesetzt. Die Bibelforscher in Allegheny öffneten ihr Herz und ihre Wohnungstür und ließen die angereisten Besucher kostenlos bei sich übernachten. In den nächsten Jahren wurden in Allegheny zur Zeit des Gedächtnismahls ähnliche Hauptversammlungen abgehalten.

Ende der 1890er Jahre organisierte man an vielen Orten Hauptversammlungen. C. T. Russell hielt bei diesen Anlässen oft Ansprachen. Wie war es, ihn zu hören?

Ralph Leffler, der dabei war, erinnerte sich: „Auf der Bühne vor dem Publikum trug er stets einen langen schwarzen Gehrock und eine weiße Krawatte. Seine Stimme war nicht laut, und er benutzte nie eine Lautsprecheranlage, weil dergleichen damals noch nicht erfunden war; doch irgendwie drang seine Stimme immer bis zur fernsten Ecke des Saals. Er konnte die Aufmerksamkeit einer großen Zuhörerschaft nicht nur eine Stunde lang fesseln, sondern manchmal zwei oder drei Stunden. Vor einer Ansprache verbeugte er sich jeweils leicht vor dem Publikum. Beim Sprechen stand er nicht steif da wie eine Statue, sondern war ständig in Bewegung; er gestikulierte mit den Armen und ging von einer Seite zu andern oder vor und zurück. Ich sah ihn kein einziges Mal mit einem Manuskript oder Notizen in den Händen — nur mit der Bibel, die er sehr oft gebrauchte. Seine Worte kamen von Herzen, und er redete sehr überzeugend. Damals befand sich auf der Bühne nichts weiter als ein Tischchen mit einer Bibel, einem Wasserkrug und einem Glas, aus dem er gelegentlich einen Schluck Wasser nahm.“

Diese ersten Hauptversammlungen waren Zeiten herzlicher Gemeinschaft und geistiger Belebung. Sie stärkten die Einheit unter allen Bibelforschern und dienten zur Bekanntmachung biblischer Wahrheiten. Als die 1890er Jahre zu Ende gingen, war den Bibelforschern klar, daß viel mehr getan werden mußte, um biblische Wahrheiten zu verbreiten. Aber sie waren immer noch verhältnismäßig wenige. Gab es einen Weg, Millionen mehr zu erreichen, als es mit den bisherigen Mitteln möglich war? Es gab ihn!

Eine Tür öffnet sich: „Evangelisation durch Zeitungen“

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verliefen Telegrafenleitungen kreuz und quer über die Welt. Die telegrafische Kommunikation war kostengünstig und schnell; sie revolutionierte die Presse. Nachrichten konnten über weite Entfernungen rasch übermittelt und dann in Zeitungen gedruckt werden. Anfang des 20. Jahrhunderts betrachteten C. T. Russell und seine Gefährten Zeitungen als wirksames Mittel, viele Menschen zu erreichen. Russell sagte später einmal: „Die Zeitungen sind eine gewaltige Macht im täglichen Leben der zivilisierten Welt geworden.“

Im Wacht-Turm vom 1. Dezember 1904 (engl.) wurde bekanntgegeben, daß drei Zeitungen Predigten C. T. Russells veröffentlichten. In der nächsten Ausgabe des Wacht-Turms hieß es unter der Überschrift „Evangelisation durch Zeitungen“: „Millionen von Predigten sind auf diese Weise nah und fern verbreitet worden; und zumindest einige haben Gutes bewirkt. Wenn der Herr will, werden wir zu unserer Freude erleben, daß diese Tür offenbleibt oder sogar noch weiter geöffnet wird.“ Die Tür der „Evangelisation durch Zeitungen“ wurde tatsächlich noch weiter geöffnet. 1913 errechnete man, daß Russells Predigten durch 2 000 Zeitungen 15 000 000 Leser erreichten.

Wie gelang es Russell aber, wöchentlich Predigten drucken zu lassen, wenn er auf Reisen war? Er telegrafierte jede Woche eine Predigt (von etwa zwei Zeitungsspalten) an eine Presseagentur. Die Agentur wiederum telegrafierte sie an Zeitungen in den Vereinigten Staaten, in Kanada und Europa.

Russell war überzeugt, daß der Herr die Tür der Evangelisation durch Zeitungen weit geöffnet hatte. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde die biblische Botschaft, die Russell und seine Gefährten verkündigten, durch solche gedruckten Predigten weit und breit bekannt. In der Druckschrift The Continent hieß es einmal über Russell: „Seine Artikel sollen in der Presse wöchentlich eine größere Verbreitung finden als die irgendeines anderen lebenden Menschen, zweifellos eine größere als die Verbreitung der Artikel aller Priester und Prediger Nordamerikas zusammen.“

Umzug nach Brooklyn

Während die Evangelisation durch Zeitungen zunahm, suchten die Bibelforscher nach anderen Räumlichkeiten, wo die Predigten verfaßt werden sollten. Warum? Das Bibelhaus in Allegheny war zu klein geworden. Man dachte auch, daß Russells Predigten, wenn sie aus einer größeren, bekannteren Stadt stammten, in mehr Zeitungen abgedruckt würden. Aber welche Stadt kam in Frage? Im Wacht-Turm vom Februar 1909 (engl.: 15. Dezember 1908) wurde erklärt: „Göttliche Leitung, die wir suchten, [schien uns] dahin zu führen, uns für die Verlegung des Bibelhauses nach Brooklyn (New-York) zu entscheiden, wo eine große Bevölkerung des Mittelstandes wohnt — eine Stadt, die wegen ihrer vielen ‚Kirchen‘ sehr gut bekannt ist. Dies schien uns für unsere Arbeit in den noch wenigen übrigen Jahren ein guter Mittelpunkt zu sein.“

So wurden 1908 mehrere Beauftragte der Watch Tower Society, darunter auch ihr Rechtsberater Joseph F. Rutherford, nach New York gesandt. Zu welchem Zweck? Um Gebäude zu erwerben, die C. T. Russell auf einer früheren Reise ausfindig gemacht hatte. Sie kauften das alte „Plymouth Bethel“ in der Hicks Street 13-17 in Brooklyn. Es hatte zuvor der nahe gelegenen Kongregationalistenkirche Plymouth, deren Pfarrer einmal Henry Ward Beecher gewesen war, als Missionsgebäude gedient. Die Abordnung der Gesellschaft kaufte auch Beechers früheres Wohnhaus, ein viergeschossiges Sandsteingebäude in der Columbia Heights 124, das nur ein paar Häuserblocks entfernt war.

Das Gebäude in der Hicks Street wurde umgebaut und „Brooklyn Tabernacle [Stiftshütte]“ genannt. Darin befanden sich die Büros der Gesellschaft und ein Versammlungssaal. Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten wurde Beechers ehemaliges Wohnhaus in der Columbia Heights 124 das neue Heim für die Mitarbeiter des Hauptbüros der Gesellschaft. Wie sollte es heißen? Im Wacht-Turm vom 1. März 1909 (engl.) hieß es: „Wir werden das neue Heim ‚Bethel‘ [„Haus Gottes“] nennen.“ f

Die sogenannte Evangelisation durch Zeitungen kam nach dem Umzug nach Brooklyn in Schwung. Aber sie war nicht das einzige Mittel, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Die Verkündigung der guten Botschaft ausgedehnt

Russell und seine Gefährten wagten sich 1912 an ein kühnes Lehrprojekt, das seiner Zeit weit voraus war. Damit sollten weltweit Millionen erreicht werden. Es war das „Photo-Drama der Schöpfung“ — eine Kombination von Filmen und Lichtbildern, die mit Musik- und Sprechplatten synchronisiert waren. Es dauerte acht Stunden und bestand aus vier Folgen. Außer dem regulären „Photo-Drama“ stand auch noch das „Heureka-Drama“ zur Verfügung, das entweder nur aus den Musik- und Vortragsaufnahmen bestand oder aus den Tonaufnahmen und Lichtbildern. Zwar wurde dabei auf die Filme verzichtet, aber in weniger dicht besiedelten Gebieten wurde es mit großem Erfolg vorgeführt.

Stellen wir uns die historische Szene vor: Im Januar 1914, in der Zeit des Stummfilms, g versammelte sich eine Menge von 5 000 Zuschauern im Temple, einem Gebäude in der 63. Straße (West) in New York. Viele weitere mußten vor der Tür abgewiesen werden. Was sollte stattfinden? Die Uraufführung des „Photo-Dramas der Schöpfung“ in New York! Die Zuschauer saßen vor einer großen Kinoleinwand. Vor ihren Augen — und Ohren — spielte sich etwas wahrhaft Erstaunliches ab. C. T. Russell, damals Anfang 60, erschien auf der Leinwand. Seine Lippen bewegten sich, und man konnte seine Worte hören! Im weiteren Verlauf der Aufführung wurden die Zuschauer — mit Hilfe von gesprochenem Text, Farbbildern und Musik — durch die Zeit von der Erschaffung der Erde bis zum Ende der Millenniumsherrschaft Christi geführt. Sie sahen auch Zeitrafferaufnahmen von Vorgängen wie dem Sichöffnen einer Blüte und dem Schlüpfen eines Kükens aus dem Ei. Sie waren verblüfft und beeindruckt.

Ende 1914 hatten in Nordamerika, Europa, Neuseeland und Australien Millionen das „Photo-Drama“ gesehen. Es war bestimmt ein wirkungsvolles Mittel, in verhältnismäßig kurzer Zeit breite Massen zu erreichen.

Wie stand es aber unterdessen mit dem Oktober 1914? Jahrzehntelang hatten Russell und seine Gefährten verkündigt, daß die Zeiten der Nationen 1914 zu Ende gehen würden. Man war gespannt. C. T. Russell war argwöhnisch gewesen gegenüber Personen, die verschiedene Daten für die Wiederkunft des Herrn festgesetzt hatten, darunter William Miller und einige adventistische Gruppen. Doch seit seinem Zusammentreffen mit Nelson Barbour war er überzeugt, daß es eine genaue biblische Chronologie gab, die auf 1914 als Ende der Zeiten der Nationen hindeutete.

Als dieses bedeutsame Jahr näher rückte, hegten die Bibelforscher große Erwartungen, aber nicht alles, was sie erwarteten, stand ausdrücklich in der Bibel. Was würde geschehen?

[Fußnoten]

a Wacht-Turm, April 1907, Seite 65.

b Weder Barbour noch Russell war der erste, der die Wiederkunft des Herrn als unsichtbare Gegenwart erklärte. Schon viel früher hatte Sir Isaac Newton (1642—1727) geschrieben, daß Christus wiederkehren und „für Sterbliche unsichtbar“ regieren werde. 1856 hatte Joseph Seiss, ein lutherischer Pfarrer in Philadelphia (Pennsylvanien), über ein zweites Kommen geschrieben, das in zwei Phasen vor sich gehen werde — eine unsichtbare parousía oder Gegenwart, gefolgt von einer sichtbaren Kundgebung. 1864 hatte Benjamin Wilson seine Emphatic Diaglott veröffentlicht mit der Zwischenzeilenwiedergabe „Gegenwart“ für parousía statt „Kommen“. B. W. Keith, der mit Barbour verbunden war, hatte Barbour und dessen Gefährten darauf aufmerksam gemacht.

c Später wurde ein klareres Verständnis der biblischen Chronologie veröffentlicht. Siehe Kapitel 10: „In genauer Erkenntnis der Wahrheit wachsen“.

d Der Name „Watch Tower“ (Wacht-Turm) kommt nicht allein in den Schriften Russells bzw. der Zeugen Jehovas vor. In den 1850er Jahren veröffentlichte George Storrs ein Buch mit dem Titel The Watch Tower: Or, Man in Death; and the Hope for a Future Life. Der Ausdruck wurde auch in die Namen verschiedener religiöser Zeitschriften aufgenommen. Der Gedanke ist, daß man Wache hält, um die Verwirklichung der Vorsätze Gottes zu beobachten (Jes. 21:8, 11, 12; Hes. 3:17; Hab. 2:1).

e Es handelt sich um folgende: Band 2: Die Zeit ist herbeigekommen (1889); Band 3: Dein Königreich komme (1891); Band 4: Der Tag der Rache (1897; später Der Krieg von Harmagedon genannt); Band 5: Die Versöhnung des Menschen mit Gott (1899); Band 6: Die Neue Schöpfung (1904). Als das Werk Millennium-Tagesanbruch in Schriftstudien umbenannt wurde, bezeichnete man Band 1 als „Serie 1“, Band 2 als „Serie 2“ usw. Der Name Schriftstudien wurde ab Oktober 1904 in kleineren Auflagen gebraucht, und ab 1906 setzte sich der neue Name allmählich durch.

f Später wurde das angrenzende Grundstück, Columbia Heights 122, gekauft, wodurch das Bethelheim vergrößert wurde. 1911 kam ein weiteres Gebäude mit Wohnräumen hinter dem Bethelheim hinzu.

g Man versuchte zwar schon früher, Film und Ton miteinander zu verbinden, aber die Ära des Films mit Tonuntermalung wurde im August 1926 eingeleitet mit der Uraufführung von Don Juan (mit Musik, aber ohne Dialog), gefolgt von The Jazz Singer (mit Dialog) im Herbst 1927.

[Herausgestellter Text auf Seite 51]

Berufen, um die gute Botschaft zu predigen

[Kasten/Bild auf Seite 44]

„Laßt beides zusammen wachsen bis zur Ernte“

Wie erging es dem wahren Christentum nach dem ersten Jahrhundert? In einem Gleichnis hatte Jesus davor gewarnt, daß der Teufel „Unkraut“, das heißt falsche Christen, unter den „Weizen“, das heißt unter wahre Christen oder die „Söhne des Königreiches“, säen würde. Beides sollte bis zur „Ernte“, dem „Abschluß eines Systems der Dinge“, zusammen wachsen (Mat. 13:24-30, 36-43). Während des großen Abfalls, der nach dem Tod der Apostel einsetzte, herrschte das „Unkraut“ viele Jahrhunderte lang vor.

Aber was geschah mit dem „Weizen“? Wer gehörte während des jahrhundertelangen Abfalls zu den „Söhnen des Königreiches“? Das können wir nicht mit Gewißheit sagen. Man nimmt allgemein an, daß es sich bei dem Unkraut in Jesu Gleichnis um den Taumellolch handelt, der dem Weizen bis zur Reife sehr ähnlich ist, sich aber dann wegen seiner kleineren schwarzen Samen leicht vom Weizen unterscheiden läßt. So würde man auch zwischen falschen Christen und den wahren „Söhnen des Königreiches“ erst bei der „Ernte“ deutlich unterscheiden können. Jesus hatte indessen gesagt: „Laßt beides zusammen wachsen bis zur Ernte.“ Das wahre Christentum wurde also nie völlig ausgemerzt.

In den vergangenen Jahrhunderten hat es immer wahrheitsliebende Menschen gegeben. Hier nur einige: John Wyclif (ca. 1330—1384) und William Tyndale (ca. 1494—1536) förderten das Übersetzen der Bibel auf die Gefahr hin, ihre Freiheit oder gar ihr Leben zu verlieren. Wolfgang Fabricius Capito (1478—1541), Martin Cellarius (1499—1564), Johannes Campanus (ca. 1500 bis 1575) und Thomas Emlyn (1663 bis ca. 1741) akzeptierten die Bibel als Gottes Wort und lehnten die Dreieinigkeit ab. Henry Grew (1781—1862) und George Storrs (1796—1879) akzeptierten nicht nur die Bibel und lehnten die Dreieinigkeit ab, sondern erkannten auch das Loskaufsopfer Christi an.

Wir können zwar von keiner dieser Personen mit Sicherheit sagen, daß sie zu dem „Weizen“ aus Jesu Gleichnis gehört, aber „Jehova kennt die, die ihm gehören“ (2. Tim. 2:19).

[Kasten auf Seite 45]

George W. Stetson „Ein Mann von bemerkenswertem Können“

C. T. Russell erkannte dankbar die Hilfe an, die ihm George W. Stetson aus Edinboro (Pennsylvanien) beim Studium der Heiligen Schrift geleistet hatte. Stetson starb am 9. Oktober 1879 im Alter von 64 Jahren. Im darauffolgenden Monat erschien im „Wacht-Turm“ eine Todesanzeige, in der der 27jährige Russell seine große Achtung vor diesem Mann zum Ausdruck brachte. „Unser Bruder war ein Mann von bemerkenswertem Können“, schrieb Russell, „und er verzichtete, um Christus predigen zu dürfen, auf die vielversprechende Aussicht, zu weltlichen, politischen Ehren zu gelangen.“ Stetson äußerte auf seinem Sterbebett die Bitte, C. T. Russell möge seine Begräbnisansprache halten. Russell erfüllte ihm diesen Wunsch. „Ungefähr zwölfhundert Menschen kamen zur Beerdigung“, berichtete Russell, „was zeigt, wie sehr unser Bruder geachtet wurde“ („Wacht-Turm“, November 1879, engl.).

[Kasten/Bild auf Seite 46]

George Storrs — Ein „Freund und Bruder“

C. T. Russell fühlte sich George Storrs, der etwa 56 Jahre älter war als er, sehr zu Dank verpflichtet. Russell hatte von ihm viel über die Sterblichkeit der Seele gelernt. Ende 1879, als Storrs schwer erkrankte, hielt Russell es für angebracht, im „Wacht-Turm“ über Storrs’ Gesundheitszustand zu berichten. „Unser Bruder“, schrieb Russell, „der schon seit langem den ‚Bible Examiner‘ herausgibt, ist den meisten unserer Leser bekannt; viele wissen auch, daß er sich wegen schwerer Krankheit gezwungen sah, das Erscheinen seines Blatts einzustellen.“ In Russells Augen hatte Storrs „allen Grund, Gott zu danken, daß er ein so langes und dem Herrn ganz geweihtes Leben haben durfte“. Storrs starb am 28. Dezember 1879 im Alter von 83 Jahren. Im „Wacht-Turm“ vom Februar 1880 (engl.) hieß es in der Todesanzeige: „Wir trauern darüber, daß wir einen Freund und Bruder in Christus verloren haben, doch nicht ‚wie die andern, die keine Hoffnung haben‘.“

[Bild]

George Storrs

[Kasten/Bild auf Seite 48]

„Ich überlasse Dir den ‚Herald‘ “

Im Frühjahr 1879 zog C. T. Russell seine Unterstützung für die Zeitschrift „Herald of the Morning“, die er gemeinsam mit N. H. Barbour herausgegeben hatte, ganz und gar zurück. In einem Brief an Barbour vom 3. Mai 1879 schilderte er seine Gründe dafür: „Wir sind zu unterschiedlichen Ansichten gelangt über die Lehre aus dem Wort unseres Vaters [in bezug auf den Wert des Loskaufsopfers Christi], und obwohl ich Dir zubillige, daß Du Deine Ansichten mit aller Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit vertrittst — was ich für meine gegenteiligen Ansichten auch beanspruche —, muß ich mich doch von meinem eigenen Verständnis des Wortes unseres Vaters leiten lassen und denke demzufolge, daß Du im Irrtum bist. ... Die Abweichungen erscheinen mir so gravierend, daß die enge Verbundenheit und Harmonie, wie sie zwischen Herausgebern und Redakteuren eines Blatts oder einer Zeitschrift bestehen sollte, zwischen Dir und mir nicht mehr existiert, und deshalb bin ich der Meinung, daß wir unsere Verbindung abbrechen sollten.“

Am 22. Mai 1879 schrieb Russell dann: „Ich überlasse Dir den ‚Herald‘ nun. Ich ziehe mich ganz und gar von der Zeitschrift zurück und verlange nichts von Dir ... Gib die Trennung bitte in der nächsten Nr. des ‚Herald‘ bekannt, und streiche meinen Namen.“ Beginnend mit der Ausgabe vom Juni 1879, wurde Russell nicht mehr als Mitherausgeber des „Herald“ aufgeführt.

Barbour gab den „Herald“ bis 1903 weiter heraus. Wie aus noch vorhandenen Verzeichnissen von Bibliotheken hervorgeht, wurde sein Erscheinen dann eingestellt. Wenige Jahre später — 1906 — starb Barbour.

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Nelson H. Barbour

[Kasten auf Seite 54]

Warum Pastor genannt?

Charles Taze Russell wurde von seinen Gefährten als Pastor Russell bezeichnet. Warum? Wegen seiner Tätigkeit als Hirte der Herde Gottes. In Epheser 4:11 heißt es, daß Christus seiner Versammlung einige als „Pastoren“ („King James“) oder „Hirten“ geben werde. Bruder Russell diente gewiß als geistiger Hirte in der Christenversammlung.

Wegen der Hirtenarbeit, die er unter dem Oberhirten, Jesus Christus, leistete, wurde er von einer Reihe Versammlungen durch Wahl als ihr Pastor anerkannt. Es war kein von ihm selbst gewählter Titel. Als erste Gruppe wählte ihn 1882 die Versammlung in Pittsburgh (Pennsylvanien) zu ihrem Pastor. Danach wurde er von rund 500 weiteren Versammlungen in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien zum Pastor gewählt.

Damals war es in den Versammlungen üblich, jährlich diejenigen zu wählen, die unter ihnen die Aufsicht innehatten. Heute werden christliche Älteste unter Jehovas Zeugen nicht von den Versammlungen gewählt, sondern von der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas ernannt. Außerdem wird darauf geachtet, Ausdrücke wie „Pastor“ oder „Ältester“ nicht als Titel zu verwenden.

[Kasten/Bilder auf Seite 56, 57]

Das „Photo-Drama der Schöpfung“

Beim „Photo-Drama der Schöpfung“ wurden Filme und Lichtbilder kombiniert und mit Ton synchronisiert. Diese eindrucksvolle Vorstellung führte die Zuschauer von der Zeit der Schöpfung bis zum Ende des Millenniums.

Mindestens 20 vierteilige Sätze wurden hergestellt, so daß jeden Tag in 80 verschiedenen Städten ein Teil des „Photo-Dramas“ gezeigt werden konnte. Es war eine echte Herausforderung, diese 80 Termine einzuhalten. Die Zugverbindungen waren nicht immer günstig. Die Versammlungen konnten nicht immer an den gewünschten Daten Säle mieten. Dennoch war Ende 1914 das „Photo-Drama“ in Nordamerika, Europa und Australien vor einem Publikum von insgesamt über 9 000 000 gezeigt worden.

[Bilder]

Textbuch des „Photo-Dramas“ mit vielen Abbildungen

Theater, in denen das „Photo-Drama“ nonstop aufgeführt wurde

Chicago

New York

Filmprojektor

Lichtbildprojektor

Schallplatten

Lichtbilder des „Photo-Dramas“

Ankündigungsblatt

[Kasten auf Seite 60]

„Blickt nach dem Jahre 1914 aus!“

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, hieß es in „The World“ (damals eine der führenden Zeitungen New Yorks) in der Beilage: „Durch den Ausbruch des schrecklichen Krieges in Europa hat sich eine außergewöhnliche Prophezeiung erfüllt. ... ‚Blickt nach dem Jahre 1914 aus!‘ ist der Ruf von Hunderten reisender Evangelisten gewesen, die als Vertreter dieses befremdenden Glaubens [in Verbindung mit Russell] landauf, landab zogen und die Lehre verkündigten, daß das ‚Königreich Gottes herbeigekommen sei‘ “ („The World Magazine“, 30. August 1914).

[Bild auf Seite 42]

Charles Taze Russell

[Bild auf Seite 43]

Joseph L. Russell, Charles’ Vater, gehörte zu der Bibelstudienklasse in Allegheny und arbeitete bis zu seinem Tod im Jahre 1897 eng mit seinem Sohn in dem Werk der Watch Tower Society zusammen

[Bilder auf Seite 50]

Die Bibelforscher verbreiteten zigmillionen Traktate, die religiöse Irrtümer bloßstellten, biblische Wahrheiten erklärten und auf das bedeutsame Jahr 1914 hinwiesen

[Bild auf Seite 52]

C. T. Russell schrieb in einem Zeitraum von 37 Jahren sechs Bände der Serie „Millennium-Tagesanbruch“ (1886 bis 1904) sowie Traktate, Broschüren und Artikel für den „Wacht-Turm“

[Bild auf Seite 53]

Bei öffentlichen Vorträgen verwendete Bruder Russell nie Notizen und war ständig in Bewegung — er gestikulierte mit den Armen und ging auf der Bühne hin und her

[Bilder auf Seite 58]

Man errechnete, daß Russells Predigten in einem Jahr durch 2 000 Zeitungen 15 000 000 Leser erreichten